Lieber Lehrer, liebe Lehrerin,
mit dem Tag der Einschulung werde ich euch anvertraut. Weil wir uns noch nicht gut kennen, und weil niemand Gedanken lesen kann, habe ich euch eine Gebrauchsanleitung mitgebracht. Es wäre toll, wenn ich auch eine von euch bekommen könnte, denn je besser wir einander kennen und verstehen, umso besser können wir auch zusammen arbeiten.
Meine Eltern haben mir auch schon so Einiges auf den (Schul)Weg mitgegeben und mir Vieles beigebracht, das ihnen wichtig ist. Am allerwichtigsten davon ist der Satz: „Was du nicht willst, das man dir tu, das füg ́ auch keinem anderen zu!“ Das ist eigentlich die einzige Regel, die man braucht, um gut miteinander auszukommen.
Dann haben sie mir noch ein paar Dinge über Lehrer erzählt –wie anstrengend und nervenaufreibend es sein kann, jeden Tag so viele lebhafte, neugierige, laute und manchmal auch freche Kinder zu unterrichten. Sie haben mir auch erzählt, dass es Lehrer traurig macht, wenn sie sich gut auf den Unterricht vorbereiten und versuchen, uns Kindern etwas beizubringen, und wir dann nicht zuhören oder sogar noch den Unterricht stören. Das sei eine Beleidigung für ihre Arbeit und dagegen sind alle Menschen allergisch. Seht ihr, ich weiß schon so manches und nun sage ich euch, was ich mir von der Schule wünsche:
1. Ich bin hier, um möglichst viel zu lernen. Du musst mich nicht lieben, das tun schon meine Eltern, sei einfach ein Profi und arbeite mit mir.
2. Ich habe noch nicht gelernt, mich anzupassen, sage noch was ich wirklich denke. Versteh das bitte nicht als lästiges Übel, das man mir möglichst schnell austreiben muss. Es ist eine Chance, die Wahrheit zu erfahren, auch wenn die nicht immer angenehm ist.
3. Meine Eltern haben ein Erziehungsmotto, das sie „liebevolle Konsequenz“ nennen. Wir haben feste Regeln und Grenzen und leben gut damit. Inkonsequenz und Chaos verwirren mich.
4. Nimm mich bitte ernst und hilf mir. Auch wenn ich noch klein bin, sind meine Ängste, Probleme und Sorgen doch groß und es tut mir weh, wenn man sich darüber lustig macht.
5. Sei mir ein gutes Vorbild, denn dadurch lerne ich. Wenn du zu spät kommst, nicht gut riechst, dich für Fehler nicht entschuldigst, lügst, im Unterricht isst, andere lächerlich machst, kann ich dir schlecht glauben, dass man das alles nicht tun soll.
6. Tu mir nicht weh! Es gibt ein Gesetz, das uns Kindern das Recht auf eine Erziehung frei von körperlicher und seelischer Gewalt zuspricht. Dieses Gesetz gilt nicht nur für unsere Eltern, sondern für alle, denen wir Kinder anvertraut werden. Geschlagene Kinder werden oft zu gewalttätigen Jugendlichen und Erwachsenen.
7. Reduziert mich nicht auf meine Schwächen. Ich weiß, dass ich noch viel lernen muss, deshalb komme ich ja in die Schule. Manche Dinge werden mir vielleicht nicht ganz leicht fallen. Helft mir, aber konzentriert euch bitte nicht nur auf meine Schwächen, sonst werde ich zu einem einzigen großen „Problem“ und niemand sieht mehr, was ich sonst noch kann.
8. Fördert meine Stärken. Es gibt bestimmt Dinge, die ich richtig toll kann und wenn ich dafür gelobt werde, spornt mich das noch mehr an. Ich werde dann immer mutiger, selbstbewusster, glücklicher und zufriedener und darauf könnt ihr dann stolz sein.
9. Seid bitte berechenbar und gerecht. Es ist ganz schlimm für Kinder, wenn Ankündigungen nicht eingehalten, ständig wechselnde Launen im Klassenzimmer und bei der Zensurengebung ausgetobt werden und wenn Lehrer „Lieblinge“ haben. Ich weiß schon, dass das nicht immer leicht ist, aber als Lohn bekommt man Respekt und Disziplin.
10. Lasst mich ohne Angst lernen. Wenn mein Kopf und mein Bauch voller Angst sind, ist da kein Platz mehr für andere Dinge und ich kann nichts lernen. Das sagen nicht nur meine Eltern, sondern auch Gehirnforscher. Wenn da etwas schief geht, kann das Folgen für mein ganzes Leben haben. Brüllende, schreiende Lehrer machen Kindern Angst und sehen außerdem schrecklich lächerlich aus. Wollt ihr das wirklich?
11. Brich mich nicht – sieh ́ mich lieber als Wundertüte. Es ist doch spannend nachzuschauen, was da so alles drin ist, was sich da alles rausholen lässt. Wie langweilig und ganz ohne „Wunder“ wären diese Tüten, wenn man sie mit aller Gewalt einheitlich befüllen würde! Schau meiner Entwicklung zu und begleite mich, aber versuch nicht, mich nach deinem Bild zu formen. Das wäre kein Fortschritt, denn dich gibt es ja schon.
12. Bestimmt werden wir auch mal Krach miteinander haben. Das ist ganz normal, das kenne ich aus meiner Familie, von meinen Freunden und aus dem Kindergarten. Das haut mich nicht um solange wir beide fair und ehrlich dabei bleiben und du deine Machtposition nicht ausnutzt.
So, nun habe ich dir alles gesagt, was für mich wichtig ist nun bist du an der Reihe! Ich freue mich schon sehr auf die Schule, bin stolz endlich ein Schulkind zu sein, zu den „Großen“ zu gehören. Ich bin voller Neugier und Aufregung, kann es kaum erwarten, endlich all das zu lernen, was meine älteren Freunde und Geschwister schon können. Ohne Argwohn und voller Zuversicht betrete ich diese neue Welt. Machen wir das Beste daraus!
Paul(a)
Aus der Elternfibel von LOA – Lernen ohne Angst
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